Herz aus Stein by Renate Dorrestein

Herz aus Stein by Renate Dorrestein

Autor:Renate Dorrestein
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: C. Bertelsmann Verlag
veröffentlicht: 2013-11-25T00:00:00+00:00


Mein Vater war der geborene Wanderer. Er besaß ein Paar solcher Schuhe, mit denen man den Mount Everest besteigen kann, und eine Kniebundhose, mit der ein normaler Mensch vor Scham im Boden versinken würde. Jeden Sonntag war es so weit. Am liebsten ging er in die Dünen bei uns in der Nähe, ein unter Naturschutz gestelltes riesiges Gebiet, in dem er jeden Zentimeter kannte. An die mit farbigen Pfählchen ausgewiesenen Rundwege hielt er sich nie, die waren was für Schönwetterspaziergänger. Er streifte stundenlang begeistert durch die Senken voller Weißdorn, Bibernellrosen und Kaninchenbaue, während wir in seinem Schlepptau jammerten, wie weit es denn noch sei. Ob es regnete oder ob man sich in der Schlinge eines Wilderers verfangen und den Knöchel verstaucht hatte, es war ihm einerlei. Man musste mit. »Den Knöchel hättest du dir so oder so verstaucht, Kester«, sagte er dann unverdrossen. »Ihr habt doch immer irgendwas.«

Idas Geburt hatte wenigstens den Vorteil, fand ich, dass wir mit ihr im Kinderwagen auf den Wegen bleiben mussten. Ich hasste nämlich das ermüdende Gestapfe durch den tiefen Sand und fürchtete immer, dass irgendwo in dieser Ödnis meinen Vater sein innerer Kompass im Stich lassen könnte.

Im November setzte meine Mutter einen Schlussstrich unter unsere sonntägliche Tradition. »Du bewegst dich, aber Ida liegt stundenlang in ihrem Wagen und friert sich zu Tode«, sagte sie nach dem Frühstück. Dabei schaukelte sie sanft die Wiege, die neben ihrem Stuhl stand. Ida grunzte zufrieden.

»Wir mummeln sie einfach warm ein«, sagte mein Vater. Er war schon dabei, sich die Wanderschuhe anzuziehen. Wir hatten auch alle welche, aus braunem Leder mit roten Schnürsenkeln. Man musste sie mit Unmengen von muffig riechendem Fett einschmieren, sonst kriegten sie tiefe Risse, die einem durch die Socken hindurch in die Haut schnitten.

»Ich denke nicht dran«, sagte meine Mutter. »Und Michiel bleibt heute auch drinnen mit seinem scheußlichen Husten. Wenn er sich erkältet hat, steckt er Ida womöglich noch an.«

Carlos strahlte. »Dann spiele ich mit meiner Eisenbahn.«

»Nein, du kommst in Quarantäne. Du bleibst im Bett, bis du nicht mehr ansteckend bist. Und Kester setzt sich gleich aufs Rad und holt dir schnell einen Hustensaft. Frits, schau mal in der Zeitung nach, welche Apotheke heute …«

»Aber dem Jungen fehlt doch gar nichts. Wie soll er Ida denn anstecken?«, sagte mein Vater perplex. »Margje, hör doch bitte mal auf, so …«

»Ich will nicht ins Bett, Mama«, rief Carlos aus.

»Ich kann ja zu Hause bleiben und mit dir spielen«, erbot sich Billie scheinheilig.

»Sybille, zieh deine Schuhe an!«, entschied mein Vater kurz. Dann wandte er sich meiner Mutter zu. Er sah aus, als könnte er gleich mordsmäßig böse werden. »Und was gedenkst du zu tun?«

»Ich werde zu Hause bleiben müssen, bei Ida.«

»Wenn wir sie mitnehmen, ist das ganze Problem gelöst.«

Mit lautem Knall stellte meine Mutter den Stapel Frühstücksteller hin, die sie gerade abräumen wollte. »Du denkst immer nur an dich. Willst du etwa, dass sie krank wird?«

»Wenn Kester nicht mitmuss, geh ich auch nicht mit«, sagte Billie. »In diesen Schuhen schäm ich mich tot.«

Mein Vater fuhr meine Mutter an: »Das Einzige, was Ida krank macht, ist, dass du den ganzen Tag auf ihr gluckst.



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